Im April veröffentlichte Vigilius auf katholisches.info den Artikel “Der große Verlust oder das Pontifikat des Jorge Bergoglio”. Darin formuliert Vigilius die These, das Hauptmotiv des aktuellen Pontifikats bestehe in der „universalen natürlichen Brüderlichkeit jenseits sekundärer religiöser Traditionen“. In einer Antwort auf einen Kommentar des argentinischen Bloggers Caminante-Wanderer führt Vigilius seine These im Folgenden weiter aus.
Verehrter Wanderer,
Sie haben mit die Ehre erwiesen, auf meinen Artikel „Der große Verlust“ zu reagieren und ihn den Lesern Ihres Blogs vorzustellen. Wenngleich wir in unseren theologischen Ansichten übereinstimmen, haben Sie hervorgehoben, meine Position nicht zu teilen, Franziskus sei ein Stratege. Ich zitiere Sie wörtlich: „Vor ein paar Monaten erschien auf der deutschen Website Katholisches.info ein brillanter und zugleich schockierender Artikel. Er trägt den Titel ‘Der große Verlust oder das Pontifikat von Jorge Bergoglio’. Im Übrigen stimme ich nicht mit der zentralen These des Autors überein - der aus offensichtlichen Gründen unter dem Pseudonym Vigilius auftritt -, dass Bergoglio nach einem perfekt orchestrierten und durchdachten Plan gehandelt hat, der im Einklang mit der globalistischen Weltagenda steht. Wie wir in diesem Blog schon oft gesagt haben, bin ich der Meinung, dass Bergoglio nichts anderes ist als ein schurkischer Jesuit aus Buenos Aires mit einem unendlichen und ungesunden Machthunger; sein ganzes Leben ist auf ein einziges Ziel ausgerichtet: Macht um der Macht willen anzuhäufen, um der Konkupiszenz der Macht willen, mit keinem anderen Ziel als dem Vergnügen, das er aus ihrer Ausübung zieht.“1
Ich möchte im Folgenden meine gegenläufige Position nochmals versuchen zu plausibilisieren. Ich mache das, weil ich diese Debatte für sehr wichtig halte. Es geht hier nämlich um viel mehr als um die psychologische und moralische Einschätzung der Persönlichkeit Bergoglios. Ich halte es für eine von diesem Pontifikat selber ausgehende Versuchung, es lediglich im Paradigma eines Gangsters zu rekonstruieren, der nichts anderes im Sinn hat als seine unmittelbaren Begierden zu befriedigen. Dadurch, so denke ich, würden wir blind für das eigentlich Bedrohliche, das von der bergoglianischen Herrschaft ausgeht.
Aber diese Bedrohung hat auch einen positiven Effekt, nämlich einen enthüllenden und kathartischen. Und das führt mich unmittelbar in das Zentrum meiner Bergoglio-Theorie. Denn Jorge Bergoglio ist zwar ein Ideologe, aber er erfindet seine Ideologie nicht, sondern vertritt – und zwar kontinuierlich - Positionen, die das Produkt einer theologischen Entwicklung sind, die die Kirche seit langem quält. Diese Entwicklung tritt in ihm, gerade weil er intellektuell grotesk unterkomplex und in seinen Handlungen grobschlächtig ist, in ihrer wahren Essenz zu Tage. Etliche Vertreter dieser Traditionslinie wären sicher entsetzt, dass man sie mit Bergoglio assoziiert, aber die gedankliche Kunst besteht ja gerade darin, unterhalb der Differenzen, die es immer gibt, mögliche Gemeinsamkeiten zu identifizieren, die vielleicht sogar die wichtigsten Aspekte sind. Ich denke, dass Jorge Bergoglio die brutale Apocalypsis (d.h. Offenbarung) der inneren Fluchtlinie der fraglichen Bewegung bildet. Nur deshalb ist es lohnend, aber auch unumgänglich, sich mit ihm zu beschäftigen. Denn die in ihm konzentriert aufscheinende und durch ihn nochmals verstärkte theologische Herausforderung wird uns auch über seinen Tod hinaus erhalten bleiben.
Im Übrigen stimmen wir in der Auffassung überein, dass Jorge Bergoglio eine vulgäre und bösartige Kreatur ist, die für die Gläubigen eine einzige intellektuelle, moralische, geistliche und ästhetische Zumutung darstellt. Und die Truppe seiner Diener, zu der so illustre Figuren wie der von Ihnen besonders geschätzte und nun auch in Öl verewigte Orgasmusmystiker Tucho2, Roche, Hollerich, die McCarrick-boys, die Patres SJ James Martin und Spadaro, Marko Ivan Rupnik und der großartige Austen Ivereigh zählen, beurteilen wir ebenso übereinstimmend. Diese Gestalten erinnern mich, ich muß es einräumen, unweigerlich an die „Nazgûl“ in Tolkiens „Herr der Ringe“, die auf stinkenden Ungeheuern reiten und den Thron des dunklen Herrschers umschwirren. Erfreulich ist allerdings die Perspektive: Sie werden ebenso enden wie die Ringgeister in Tolkiens Epos.
Das Begründungsproblem
Bevor ich zu meiner eigenen These komme, möchte ich kurz auf zwei Schwierigkeiten eingehen, mit der, wie mir scheint, Ihre Behauptung zu kämpfen hat, dass Bergoglio keinen ideologisch gespeisten Plan besitzt und nichts anderes ist als ein schurkischer Jesuit aus Buenos Aires mit einem unendlichen Machthunger. Diese Position wird zum einen durch die Erfahrung irritiert, dass leibhaftige Menschen komplexe Wesen mit einer erheblichen Inkonsistenzbereitschaft sind. Vielleicht gehört es zur Idee des Schurkentums, dass Schurken lediglich unmittelbare egozentrische Zwecke verfolgen. Aber Menschen bilden Ideen normalerweise nicht ungetrübt ab. Es ist also durchaus vorstellbar, dass auch Schurken, sogar schurkische Jesuiten, inhaltliche Überzeugungen und politische Ziele besitzen, die nicht einfach mit der Sorge um ihr privates Vergnügen identisch sind.
Zum anderen leidet die Machtthese darunter, dass die Argumentation zirkulär wird. Das, was anhand der Phänomene gezeigt werden soll, dass es nämlich Bergoglio um nichts anderes als den Zuwachs seiner Machtfülle geht, wird immer schon vorausgesetzt, um aus den entsprechend interpretierten Akten zu folgern, dass es Bergoglio um nichts anderes als den Zuwachs seiner Machtfülle geht. Hier lauert die Beliebigkeit der Einschätzungen. Würde sich Franziskus etwa in bestimmten Fällen ganz anders verhalten, könnte die absolut gesetzte Machtthese immer noch sagen, dass er sich aus Machterhaltungsgründen nur taktische Zurückhaltung auferlege. Im Übrigen operieren die Linken im Blick auf die kirchliche Lehrautorität strukturidentisch: Alles wird als bloßer Ausdruck des Willens zur Macht von männlichen Klerikern deklariert, und wenn diese Kleriker sich unterwürfig verhalten, gilt auch das nur als ein verschlagenes Täuschungsmanöver desselben Machtwillens. Der französische Philosoph Jean-Claude Michéa hat das ironisch ein „anwenderfreundliches Verfahren“ genannt. Denn derjenige, der alles nur als Machtsetzung begreift, hat immer Recht. Es gibt keine Widerlegungsmöglichkeit, denn auch der Widerlegungsversuch wird wiederum als Ausdruck des Machthungers gedeutet.
Aus der Zirkularität folgt allerdings nicht zwingend, dass die Behauptung in der Sache auch falsch sei. Sie ist nur nicht beweisbar und bleibt mit einem spekulativen Index versehen. Das trifft auch auf die Erklärung der Handlungen Bergoglios durch deren Rückführung auf den Peronismus zu, der als eine skrupel- und prinzipienlose Weise des Machterwerbs und Machterhaltes um der bloßen Macht willen verstanden wird. Das deutsche Äquivalent wäre der Merkelianismus. In diesem Koordinatensystem könnte Franziskus sich auf jede mögliche Weise verhalten, und es wäre immer als ein Ausdruck des Peronismus interpretierbar. Kann sein, kann auch nicht sein. Es ist ebenso unwiderlegbar wie unbeweisbar.
Aus diesem Grund plädiere ich dafür, einen anderen Ansatz zur Phänomenerhellung zu wählen. Dazu muß man zunächst auf das schauen, was Franziskus sagt, und man muß schauen, ob er das nur beiläufig sagt oder ob sich diese Aussagen wiederholen, also eine Reihe bilden. Außerdem muß man analysieren, wie diese Aussagen im Konzert der sonstigen Aussagen verortbar sind. Und wenn sich diese Aussagen wiederholen und im Gefüge der anderen Artikulationen eine prominente Rolle besitzen sollten, muß man schauen, ob es zwischen diesen Aussagen und den politischen Handlungen demonstrierbare Korrelationen gibt. Zwar läßt es sich nicht apriori ausschließen, dass es mehrere prominente Aussagereihen gibt, die sich zueinander widersprüchlich verhalten. Erfahrungsgemäß kommt dies aber selten vor, denn das setzt einen erheblichen intellektuellen oder psychiatrischen Defekt voraus. Und wenn man so eine prominente Aussagereihe identifiziert haben sollte, die den Gesamtzusammenhang bestimmt, hätte man den hermeneutischen Schlüssel gefunden, mit dem sich auch möglicherweise existierende Seitenstränge als solche erkennen ließen. Diese Seitenstränge könnten sich zum Hauptmotiv sachkompatibel oder gar korrelativ verhalten oder vielleicht durch politisches Kalkül, mangelnden Scharfsinn, Demenz oder Charakterschwächen erklären lassen.
Nun denke ich, dass man im aktuellen Pontifikat ein solches Hauptmotiv identifizieren kann. Es ist die von mir geschilderte „universale natürliche Brüderlichkeit jenseits sekundärer religiöser Traditionen“. Dieses Motiv bildet nichts geringeres als das Projekt, den katholischen Glauben präzise seiner Definitionsmitte zu berauben. Denn es betreibt den Rückbau der Theologie der neuen, übernatürlichen Schöpfung und der Kirche als mystischer Leib Christi in eine spezifisch bestimmte schöpfungstheologische Idee. Um diesen Vorgang zu verdeutlichen, versuche ich zunächst, den authentischen Gehalt des christlichen Glaubens zu beschreiben, um sodann das Grundmotiv der gegen ihn entstandenen Widerstandsbewegung zu umreißen, aus der auch der „schurkische Jesuit aus Buenos Aires“ hervorgegangen ist.
Der übernatürliche Glaube
Die Rede vom „mystischen Leib Christi“ besagt, dass durch den Tod und die Auferstehung Christi sowie die dadurch ermöglichte Aussendung des Heiligen Geistes von Seiten Gottes eine wirklich neue Schöpfung konstituiert wird, und zwar nicht dadurch, dass, wie es die lutherische Theologie schließlich behauptet, die alte Welt einfachhin vernichtet, sondern die erste Schöpfung in der Gnade Christi in „den neuen Himmel und die neue Erde“ transformiert wird. Deswegen ist das Pfingstereignis die Reproduktion der Ausgießung des Schöpfergeistes auf einer nun höheren, eben übernatürlichen Ebene. Dieser Vorgang besitzt eine tiefe trinitätstheologische Dimension: Während der Schöpfer der Welt nicht der Sohn, sondern der Vater ist, der die Welt „in Christus“ hervorbringt, verdankt sich die neue Schöpfung der aktiven Tat des Sohnes selber. Der, in dem die Dinge sind, wird nun unter einer spezifischen Rücksicht zu deren Neubegründer. Aus Liebe zu seinem Sohn eröffnet der Vater, der der ungegründete Grund überhaupt aller Dinge ist, dem aus ihm ewig hervorgehenden göttlichen Sohn die Möglichkeit, dass der Sohn selber nun dem Menschen gegenüber jener Schöpfergott wird, der den Menschen durch sein Opfer aus der sündigen Abtrennung vom Vater und der drohenden Nichtigkeit der Hölle rettet, indem er uns in seine eigene personale Beziehung zum Vater aufnimmt. Das ist das apriorische Ziel des väterlichen Schöpfungsaktes selbst. Die Welt ist für und auf den Sohn hin hervorgebracht.
Die Aufnahme des Menschen in Christi eigene Beziehung zum Vater konstituiert genau das Sein der Kirche; sie ist die in und durch Christus begründete Gemeinschaft der darin begnadeten Menschen mit dem ewigen Sohn. Die Selbsthingabe des Sohnes an den Vater hat uns in sich integriert, so dass wir „Söhne im Sohn“ werden. Wie der Vater dem Sohn die Welt als sein Geschenk übergibt, legt der Sohn die von ihm erlöste und in ihm umgestaltete Welt dem Vater zu dessen Verherrlichung zu Füßen. Die neue Kreatur wird zur Gegen-Gabe des Sohnes innerhalb seiner eigenen Hingabe an den Vater, der den Sohn wiederum als Weltenrichter einsetzt und zum ewigen Lebensprinzip der neuen Schöpfung ermächtigt: Ihm, Christus, ist alle Gewalt gegeben, im Himmel, auf der Erde und unter der Erde. Es ist kein Zufall, dass die Geheime Offenbarung ab dem 21. Kapitel den neuen Himmel und die neue Erde, die bedeutenderweise als das „neue Jerusalem“ bezeichnet werden, als einen großen liturgischen Zusammenhang schildert, in dem „das Lamm“, also der geopferte Christus, für uns die zentrale Bezugsdimension ist. Der ungegründete Grund allen Lebens vermittelt sich uns einzig und allein in Christus. So ist die gesamte Schöpfungs- und Heilsbewegung ein zwar einheitliches, aber differenziertes Geschehen innerhalb der ewigen Beziehung von Vater und Sohn im Heiligen Geist.
Im Blick auf unsere Diskussion der Probleme der modernen Kirche möchte ich zwei Aspekte des geschilderten Heilsvorganges gesondert betonen. Zum einen ist die übernatürlich erhobene Schöpfung eine substantiell neue Schöpfung. Trotz aller Kontinuität zur ersten Schöpfung bildet sie ontologisch eine unableitbar neue Realität, auf die die Natur des Menschen zu ihrer eigenen Vollendung zwar innerlich hingeordnet ist, die durch Gott aber erst in einem zweiten, wiederum völlig freien Akt hervorgebracht wird. Das Verhältnis von erster und neuer Schöpfung, von Natur und Übernatur ist eigentümlich komplexer Art. Es darf keinesfalls im Paradigma eines Bruches beschrieben werden, obwohl es eine echte Zäsur, ein schöpferisches Neubeginnen kennt: „Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.“ (2 Kor 5,17) Der Anfang der neuen Schöpfung ist auf der Zeitachse lokalisierbar: basal beginnt er mit der Konstitution der „unio hypostatica“ durch den Heiligen Geist im Leib der Jungfrau. In Gott selber gibt es natürlich keine zeitlichen Erstreckungen, alle Ereignisse auf der Zeitachse sind in ihm gleich gegenwärtig. Deswegen sind diese Akte in ihm nur logisch unterscheidbar, aber diese Unterscheidung ist gleichwohl von überragender theologischer Bedeutung.
Der zweite Aspekt hängt damit innerlich zusammen. Aus der Menschwerdung Gottes folgt keineswegs, dass Christus, der die menschliche Natur als seine eigene angenommen und sie darin mit der göttlichen Natur verbunden und übernatürlich erhoben hat, damit auch schon mit jeder einzelnen menschlichen Person vereinigt ist. Auch dieser Punkt ist von nicht überschätzbarer Relevanz. Ich halte es für hochgefährlich, wenn „Gaudium et Spes“ in Nr. 22 formuliert: „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich durch seine Fleischwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.“ Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass das gesamte Wojtyla-Pontifikat einschließlich des im Assisi-Ereignis gipfelnden ökumenischen Furors an diesem Satz hängt. Schon in Wojtylas erster Enzyklika „Redemptor hominis“ hat diese Konzilsaussage Kronzeugencharakter.
Das im Konzilstext eingefügte „gewissermaßen“ indiziert freilich ein gewisses Problembewußtsein. Und in der Tat: Die Formulierung suggeriert, als ließe sich das Verhältnis des menschgewordenen Sohnes als eines solchen zu allen anderen Menschen im Paradigma des Verhältnisses beschreiben, das Christus als die ewige Person des Logos notwendigerweise zu den beiden anderen Personen des einen und selben göttlichen Wesens besitzt. Damit kommen aber die Ebenen durcheinander. Der Satz des Konzilstextes ist viel zu grob, er muß geradezu in die Irre führen. Ohne den komplizierten Sachverhalt an dieser Stelle näher vertiefen zu können, benenne ich nur das Resultat der notwendigen Distinktionen: Christus verbindet seine Menschheit erst in einem zur Inkarnation logisch zweiten, völlig freien Akt, mit anderen Menschen zu einer mystischen Gemeinschaft. Und zwar verbindet er sich mit jenen, die er „aus der Welt erwählt hat“ (Joh 15,19), und die aus diesem Grunde, so lautet der komplette johanneische Satz, von der Welt, also den Nicht-Erwählten, gehasst werden. Diese Verbindung geschieht durch die Vermittlung des Heiligen Geistes, dessen Aussendung ein eigener Heilsakt ist, in dem erst die Kirche konstituiert wird, die sowohl das Werkzeug des Gottesgeistes zur Vereinigung der Menschen mit Christus als auch selber die mystische Gemeinschaft mit Christus ist. In dieser Vereinigung ergießt sich der Reichtum der göttlichen Natur, der Christi heilige Menschheit erfüllt, in die Gläubigen. Aus diesem Grunde kann die Tradition die Menschheit Christi als das eigentliche Sakrament bezeichnen, dessen konkrete Zueignungsmodi für uns die leiblich-sakramentalen Vollzüge der Kirche sind, die uns Christus in der Vermittlung des ihn ontologisch repräsentierenden Weiheamtes selber spendet.
Dem entspricht unmittelbar die anthropologische Seite. Denn in analoger Weise zur freien Selbstgabe des inkarnierten Logos und zum Akt der Gottesmutter, die über ihre menschliche Natur so verfügt, dass sich der göttliche Logos durch den marianischen Hingabeakt die menschliche Natur aneignen kann, müssen auch wir die von uns je einmalig besessene menschliche Natur dem Logos zur Verfügung stellen, damit er sie mit seiner Gnade erfüllen kann. Das heißt: ob der menschgewordene Gott sich überhaupt mit uns zu vereinigen vermag, hängt wesentlich auch an unserer freiheitlichen Selbstverfügung. Dass unsere Selbstgabe an den Logos mit dessen freier Selbstgabe an uns nicht auf einer Ebene steht, sieht man im Übrigen daran, dass unser freiheitlicher Akt seinerseits schon wieder Ausdruck seiner erwählenden Gnade ist. Die göttliche Erwählungsgnade kommt unserer Freiheit zuvor und vermag unergründlicherweise die Zustimmung unserer Freiheit, ohne die Freiheit zu zerstören, unfehlbar hervorzubringen. Das Sakrament ist dann Gottes Antwort auf unseren verdankten freiheitlichen Glaubensakt, in dem wir uns der „Überschattung durch den Heiligen Geist“ öffnen, damit er unsere Natur mit der verklärten Menschheit Christi verbinden und so in Christus zu einer neuen Schöpfung umgestalten kann. Für sich genommen ist die Inkarnation allererst die Ermöglichungsbedingung für die tatsächliche Verbindung des menschgewordenen Logos mit den einzelnen Menschen. Hier gilt präzise der berühmte Satz des Angelus Silesius: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, doch nicht in dir, du gingest ewiglich verloren.“
Die Revolution der De-Zäsuralisierung
Gegen diese – von mir nur sehr skizzenhaft beschriebene – Theologie hat sich nun ein mächtiger Widerstand erhoben. Ich denke, dass sich dieser Widerstand hauptsächlich aus zwei zusammenhängenden Motiven speist. Zum einen wird im Laufe der Neuzeit die Idee einer von der alltäglichen Erfahrungswelt unterschiedenen übernatürlichen Welt auch dem religiösen Bewußtsein immer unplausibler. Dies artikuliert sich vor allem in der Debatte, ob der Gedanke des übernatürlichen Gottesreiches, wenngleich es als die Umgestaltung der Schöpfungsrealität selber begriffen wird, nicht eine verächtliche Distanz zur Welt, Weltpessimismus, persönlichen „Heilsegoismus“ und eine hermetisch abgezirkelte kirchliche Sonderwelt erzeuge. Diese Debatte wird ab dem 19. Jahrhundert faktisch mit der leidenschaftlich umstrittenen Frage identisch, wie sich die Kirche zur säkularen Moderne mit deren Leitprinzipien der wissenschaftlichen Rationalität, sittlichen Autonomie und individuellen Selbstbestimmung verhalten soll.
Die Beantwortung all dieser Fragen hängt wesentlich davon ab, wie die grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Natur und Gnade bzw. Schöpfung, Inkarnation und Begnadung vorgenommen wird. Deren Neujustierung gehört zu den zentralen Anliegen der überaus einflußreich gewordenen französischen Nouvelle Théologie und der Theologie Karl Rahners. Generell kann man sagen, dass es das Grundanliegen der modernen Theologie ist, Natur und Gnade, Anthropologie und Christologie, Welt- und Heilsgeschichte in ein zäsurloses Kontinuum zu bringen. Das geschieht in den theologischen Entwürfen auf unterschiedliche Weise, aber das Bedürfnis nach einer De-Zäsuralisierung ist immer vorhanden. Das letzte Konzil ist durch diese Bestrebung massiv geprägt worden.
Das klingt bislang alles wenig aufregend. So ist es aber nicht. Denn mit dem soeben genannten Anliegen der Weltbejahung und Anschlußfähigkeit an die moderne Gesellschaft ist ein weiteres Motiv innwendig verbunden, das ich sogar für das Hauptmotiv der Neujustierung des Verhältnisses von Natur und Gnade halte: Es müssen immer schon und in Ewigkeit alle dazugehören. Die Kritik etwa der Nouvelle Théologie und Karl Rahners an der Neigung der Neuscholastik, Natur und Übernatur zu sehr auseinanderzureißen und nur wie zwei einander äußerliche Blöcke zusammenzufügen, ist zwar nicht ganz unberechtigt. Gleichwohl ist für den Hauptstrang der modernen Theologie das universalintegrative Potential des klassischen Ansatzes überhaupt zu gering. Es ist für diese Theologie ein zunehmend unerträglicher Gedanke geworden, dass es weder ein universal immer schon existierendes anonymes Christsein noch eine garantierte apokatastasis panthon gibt. Deswegen ist diese Theologie bestrebt, um der Universalinklusion willen die Differenz zwischen dem Schöpfungs-, Inkarnations- und Begnadungsvorgang sowie die heilstheologische Bedeutung des kirchlich-sakramentalen Geschehens und – bis in die Eschatologie hinein - der persönlichen Freiheitsverantwortung abzuschwächen. Die große Sympathie der Nouvelle Théologie und Rahners für die universalintegrative Kosmologie Teilhard de Chardins besitzt einen hohen Signifikanzcharakter.
„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ So ist es auch hier. Die theologische Achse in der Verhältnisbestimmung von Natur und Gnade, Welt und Gottesreich hat sich im 20. Jahrhundert schließlich derart verschoben, dass der Gedanke der Übernatürlichkeit mittlerweile ganz verschwunden ist. Er wurde durch eine Spiritualität der „vollen Zeitgenossenschaft“ und des Engagements für eine „gerechte Welt“ ersetzt. Diese weltoptimistische und auf den innergeschichtlichen Fortschritt vertrauende Bewegung hat der marxistische Philosoph Theodor W. Adorno mit der Bemerkung bedauernd registriert, es sei ein großer Verlust, dass die Kirche die Rede vom „Jammertal“ preisgegeben habe. Während in der Philosophie bereits seit den 1940er Jahren, wenn man etwa an Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ oder Martin Heideggers „Zeit des Weltbildes“ denkt, die kritische Diskussion der Aufklärungsmoderne und der neuzeitlichen Rationalität immer intensiver wurde, stimmte die Kirche auf dem letzten Konzil ihre Wertschätzungshymnen auf die moderne Welt an. Sie wollte ihre Moderneskepsis endlich abstreifen und auch dazugehören. Im Programm des deutschen Synodalen Weges kommt dieser pausbäckige Weltoptimismus ganz zu sich. Hier ist die Kirche mit der Welt identisch geworden. Den nachkonziliaren Verfallsprozeß hat einer der Stars der Nouvelle Théologie, nämlich der von Johannes Paul II. zum Kardinal erhobene Pater Henri de Lubac SJ, vor einigen Jahrzehnten zwar scharf kritisiert.3 Aber Lubac hat nie thematisiert, dass es an durchaus maßgeblicher Stelle die „neue Theologie“ selber war, die die Fluchtbahn zu diesem Schrecken eröffnet hat, dessen berühmtestes Gesicht gegenwärtig Jorge Bergoglio ist.
Das zentrale Problem der modernen De-Zäsuralisierungstheologie besteht darin, dass sie immer die Christologie angreift. Dies gilt vor allem für die beiden von mir herausgehobenen Punkte der ontologischen Unableitbarkeit der neuen Schöpfung in Christus sowie des individuellen Begnadungsvorganges als eines wechselseitigen Freiheitsgeschehens, in dem das Erwählungshandeln Christi immer den Primat besitzt. Beide Aspekte bilden ja die größte Gefährdung des Universalinklusivismus. Deswegen haben die modernen theologischen Theorien einen eigentümlich mechanistischen, leblosen Charakter. Das haben sie mit der neuzeitlichen Metaphysik gemeinsam, in der es ebenfalls primär um Vereinheitlichung, Berechenbarkeit, Gewißheit und Sicherstellung geht. In den vereinheitlichenden Gefügen der modernen Theologie verschwindet die Freiheit, das Unableitbare. Es ereignet sich nichts mehr, weil sich nichts mehr ereignen darf. Die prominenteste Phrase lautet „immer schon“. Aus solchen theologischen Zusammenhängen verschwindet das Heilige, damit auch die Heiligkeit und der Heilige, der der lebendige Christus selber ist, der seinen Erwählten Anteil an seiner Heiligkeit gewährt. Deswegen gilt vorzüglich für die moderne Theologie, die sich der Gottheit bemächtigt und sie zum anthropozentrischen Prinzip der Universalakzeptanz von allem und jedem gemacht hat, der Satz Martin Heideggers: „Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten noch kann er ihm opfern“. Vor diesem Gott kann der Mensch nicht mehr „aus Scheu ins Knie fallen“.4
Die transzendentaltheologische Theorie Karl Rahners, die die Christologie in die evolutionäre Weltanschauung integriert und eine gedankliche Totalsynthese anstrebt, stellt den anspruchsvollsten Versuch der inklusivistischen Theologie dar. Eine theoretisch zwar schlichtere, politisch aber ebenso wirksame Variante des inklusivistischen Universalismus ist von Karol Wojtyla formuliert worden. Auf seine Weise kommt Wojtyla ebenfalls zum „anonymen Christen". Wojtylas Position geht, wie vorhin bereits angedeutet, zentral vom Inkarnationsgedanken aus, den sie so interpretiert, dass alle Menschen immer schon zu Christus gehören, weil Gott sich in seiner Fleischwerdung mit jedem Menschen verbunden hat. Hier fallen Inkarnation und Begnadung streng ineins. Dies ist nach Wojtyla die „apriorische Offenbarung“. Sie ist die theologische Legitimierung des Assisi-Treffens, bei dem, aus der Perspektive Wojtylas, nicht einfach Heiden auf Christen, sondern unbewußte Christen auf bewußte Christen getroffen sind. Das Spezifikum der selbstbewußt gewordenen Christen besteht nämlich nur darin, dass sie von der „aposteriorischen Offenbarung“ berührt worden sind, also von jener historischen Offenbarungsrede und Verkündigung, in der das ausdrücklich artikuliert und akzeptiert wird, was allen Menschen aufgrund der apriorischen Offenbarung immer schon zuteil geworden ist. Alle gehören seinsmäßig zu Christus und bilden deswegen auch immer schon die eine universale Kirche, die sowohl die über sich aufgeklärten als auch die noch nicht über sich aufgeklärten Menschen als ihre Mitglieder umfasst. Das ist Wojtylas Begriff der „Katholizität“. Und nur von hierher wird neben dem fanatischen Ökumenismus auch der ansonsten ganz widersinnige Satz Wojtylas verstehbar, dass der Weg der Kirche der Mensch sei. Für den Papst ist dieser Satz streng sachidentisch mit der Aussage, der Weg der Kirche sei Christus.
Jorge Bergoglio transportiert hingegen den Inklusivismus auf die allerschlichteste Art. Zwar zitiert er gelegentlich, vor allem bei Weihnachtsansprachen, Karol Wojtylas Lieblingssatz aus Gaudium et Spes, aber erörtert ihn nie anhand der komplizierten Distinktion zwischen apriorischer und aposteriorischer Offenbarung. Das heißt: er bemüht sich erst gar nicht, den theologischen Inklusivismus christologisch zu begründen. Statt dessen behauptet Franziskus permanent, alle Menschen seien als Menschen bereits „Kinder Gottes“ und bildeten deswegen die „Familie Gottes“, also jene universale Gemeinschaft, die, wie er in seiner diesjährigen Fastenbotschaft zum Besten gab, das „gelobte Land“ sei, auf das es Gott einzig und allein abgesehen habe. Den Gedanken, dass wir erst in Christus „Söhne im Sohn“ werden, weil wir in die ewige Vaterbeziehung des menschgewordenen Logos von diesem auch noch gnadenvoll aufgenommen werden müssen, kennt das bergoglianischen Pontifikat substantiell nicht mehr. Die Rede von der allein relevanten übernatürlichen Gotteskindschaft ist in einen rein schöpfungstheologischen Kontext zurückgenommen worden.
Die Nähe zu Rahner und Wojtyla ist freilich unverkennbar. Denn zum einen wird es nicht nur für Rahner, sondern selbst für Wojtyla kaum mehr möglich sein, etwa das 17. Kapitel des Johannesevangeliums zu integrieren, in dem Jesus im Blick auf seine Jünger zum Vater spricht: „Für sie bitte ich; nicht für die Welt bitte ich, sondern für alle, die du mir gegeben hast; denn sie gehören dir.“ Der hier aufscheinende Exklusivismus, der im unergründlichen Erwählungswillen Gottes wurzelt, ist in diesen Theorien aber nicht nur faktisch nicht mehr abbildbar, er soll gerade überwunden werden. Zum anderen stehen die Offenbarungsrede und die Mission der Kirche stets nur im Dienst der Bewußtmachung und Verteidigung des „alle, alle, alle“ immer schon umfassenden gelobten Landes - gleichgültig ob dieses Land im Kontext der „mit der Weltgeschichte koexistenten und koextensiven Selbstmitteilung Gottes“ (Rahner), der apriorischen Offenbarung Wojtylas oder des bergoglianischen Verständnisses der natürlichen Menschlichkeit begriffen wird, die mit der Gotteskindschaft einfachhin identisch sein soll.
Jorge Bergoglio benötigt für sein Modell der universalen natürlichen Geschwisterlichkeit den Christus überhaupt nicht mehr. Und tatsächlich ist das meines Erachtens die geheime Fluchtlinie der gesamten De-Zäsuralisierungstradition. Bergoglio bringt es auf den Punkt: Wendet man sich von der klassischen kirchlichen Position mit deren schroffen Zumutungen ab und verlegt sich auf die Erarbeitung harmonisierender Synthesen, kann man es gleich so machen wie Jorge Bergoglio. Man reduziere doch einfach die christliche Rede auf einige simple schöpfungstheologische Aussagen und damit die Christologie auf eine bloße Jesulogie, in der der Jesus der Zärtlichkeit sichtbar macht, was ohnehin bereits der Fall ist, dass nämlich „alle, alle, alle“ immer schon von Gott bedingungslos angenommen sind. Gott liebt dich, und er geht alle Wege mit. Alle Wege - seien sie buddhistischer, hinduistischer, amazonisch-mythologischer, islamischer, christlicher oder sogar rein säkularer Art - sind gleichermaßen Wege des Heils, weil sie von dem identischen Zentrum der apriorischen universalen Gotteskindschaft ausgehen und zu ihm zurückführen. Die entscheidende Wahrheit ist allein diese Geschwisterlichkeit, und deswegen sind die diversen religiösen Traditionen zwar nach des Papstes Einschätzung „Reichtümer“, haben aber doch nur sekundären Charakter. Es ist egal, auf welchem konkreten Weg man geht. Nur einen Weg sollte man auf keinen Fall beschreiten, denn der führt ins Unheil. Das ist der Weg der spaltenden Indietristi, also unser Weg.
Das Zeitalter des Ausgleichs
Aus den späten 1920er Jahren stammt ein bedeutender Aufsatz des Philosophen Max Scheler, der den Titel „Das Weltalter des Ausgleichs“ trägt.5 Ich erwähne an dieser Stelle den Scheleraufsatz deswegen, weil ich deutlich machen möchte, dass die uns herausfordernde theologische Bewegung der De-Zäsuralisierung keine Kleinigkeit ist, sondern in einem großen und überaus machtvollen Kontext steht, der sich auch in ihr manifestiert. Denn in seiner Schrift prophezeit Scheler die Heraufkunft eines Weltalters, dessen Struktur maßgeblich durch den Ausgleich der bisherigen Gegensätze - der verschiedenen Rassen, von Kapitalismus und Sozialismus, körperlicher und geistiger Arbeit, männlicher und weiblicher Geistesart sowie der verschiedenen Nationen und Kulturkreise mit ihren unterschiedlichen Auffassungen von Mensch, Welt und Gott – bestimmt sein wird. Eine globale Welt ist nach Scheler also im Entstehen, in der an die Stelle des alten Weltalters mit seinen Spannungsgefügen und Differenzsetzungen die Parameter der umgreifenden Einheit, Vernetzung, Harmonie und Gleichheit treten. Diese weltumspannende Entwicklung wird auch die Religionen massiv betreffen, die sich im Zuge des Ausgleichs viel stärker wechselseitig durchdringen und damit ihre klassischen Profile relativieren werden.
Als ich diesen Text das erste Mal las, war es mir, als ob ich ein Déjà-vu hätte. Denn der von Scheler beschriebene Geist des Ausgleichs, der das neue Weltalter bestimmt, war mir bereits geläufig, nur unter der etwas abgewandelten Bezeichnung „Der Geist des Konzils“. Dieser Geist, der von der linken Revolutionsgarde permanent bemüht wird, durchwirkt das Konzil in der Tat zuinnerst. Es ist meines Erachtens im Wesentlichen dem Bedürfnis des rechten Revolutionsflügels nach Selbstabsolution geschuldet, dass er diesen „Geist des Konzils“ zu einer Erfindung der Linken erklärt und sich mit der „Hermeneutik der Kontinuität“ blind macht für die Unversöhnlichkeit von Widersprüchen, an deren Produktion er selber beteiligt ist.
Man darf sich von der signifikanten Vehemenz nicht beeindrucken lassen, mit der die Ratzingerianer die „Hermeneutik der Kontinuität“ zu einem sakrosankten Dogma erklären. Denn es ist in Wahrheit ziemlich leicht erkennbar, wie sich der Geist des neuen Weltalters auch der theologischen De-Zäsuralisierungsbewegung, dem letzten Konzil sowie den Konzils- und Nachkonzilspäpsten zuinnerst eingeprägt hat. Am Schamlosesten stellt sich allerdings das bergoglianische Pontifikat in den Dienst des „Weltalters des Ausgleichs“. Hier liegt auch der Grund für die Allianz, die Bergoglio mit den globalistischen Eliten eingegangen ist. Damit radikalisiert sich in diesem Pontifikat jedoch nur, was in der kirchlichen Vorgeschichte bereits angelegt ist. In Bergoglio kommt jene Revolution der Denkungsart vollends zu sich, die in ihrer philosophischen Substanz darin besteht, einen neuen Identitätsbegriff zu etablieren. Dieser Begriff versteht das, was das klassische Identitätsverständnis als logisch nicht integrierbar betrachtet, als inneres Moment der Identität selber. In all seinen Spielarten geht es diesem Identitätsbegriff um die letztendliche Verflüssigung aller Differenzen.
Dass dieser neue Identitätsbegriff das bergoglianische Pontifikat definiert, wird vorzüglich durch die letztjährige Synodalitätssynode und deren Vorbereitungszeit sichtbar. Ich werde mich im Folgenden, verehrter Wanderer, auf Ihren bedeutenden Essay „Die große Umkehrung“ beziehen, in dem die fragliche Synode eine prominente Rolle spielt. Der Essay thematisiert vor allem zwei Texte, nämlich eine kleine biblische Exegese des Jesuiten Pater Spadaro und das erste Vorbereitungsdokument für die Synode. Zuerst zu Spadaro SJ.
Dessen Text interpretiert die Episode aus dem Matthäusevangelium 7, 24-30, in der eine kanaanäische Frau Jesus für ihre Tochter um Hilfe bittet, die von einem Dämon geplagt wird. Jesus weist das Anliegen der heidnischen Frau zunächst mit den Hinweis ab, er sei nur zu den verlorenen Schafen Israels gesandt. Da die Frau sich aber nicht abweisen läßt, sondern dem Herrn vielmehr ihren großen Glauben zeigt, erbarmt sich Jesus schließlich und erfüllt ihre Bitte. Es ist leicht erkennbar, was die Aussageabsicht des biblischen Textes ist: Es geht um eine Theologie des Glaubens, darum, dass die Erfüllung unserer Bitten entscheidenderweise vom Erweis des Vertrauens abhängig ist, das Christus entgegengebracht wird. Korrelierend werden im Neuen Testament die Angehörigen des eigenen Volkes von Jesus wegen ihres mangelnden Glaubens ständig scharf kritisiert; ihnen werden die Heilsakte gerade verweigert.
Was macht Pater Spadaro SJ aus dieser Perikope? Sie wird ihm zu einem Lehrstück der Bekehrung Jesu selber. Erst die kanaanäische Frau, also die Nicht-Dazugehörende, erweicht den hartherzigen Herrn. Er wird durch die Heidin von der ausgrenzenden Starrheit seiner Rechtgläubigkeit zur authentisch religiösen Haltung der Inklusion und zu zärtlicher Menschlichkeit befreit. Im Koordinatensystem des vorhin skizzierten neuen Identitätsbegriffs, der für Spadaro offensichtlich leitend ist, läßt sich die bei Jesus zunächst antreffbare moralisch schlechte Position als das Beharren auf einer unflexiblen Identität beschreiben. Dieses Identitätsverständnis begreift das Fremde noch nicht als das in Wahrheit immer schon Dazugehörige, als das, was die Identität überhaupt erst zu sich selbst bringt.
Diese Erläuterung Spadaros entspricht nun präzise den Aussagen des Vorbereitungsdokumentes der Synodalitätssynode, die zur Gänze die praktische Realisation des geschilderten neuen Identitätsbegriffs ist. In diesem Dokument ist zwar nicht von der Bekehrung Jesu, aber ebenfalls im Bezug auf biblische Dialoge davon die Rede, dass zum heilenden Gespräch Jesu mit den unverzichtbaren Anderen sich unversehens der Widersacher hinzuschleicht. Er ist der teuflische Feind, der vom Dokument als jener rechtgläubigkeitsfanatische Rigorist dechiffriert wird, der mit seinem alten Identitätsverständnis den fruchtbaren Dialog unterbinden will. Das Dokument kennt also zwei Klassen von „Anderen“. Zum einen kennt es „Andere“, die die kirchlich Fremden oder Entfremdeten, auf jeden Fall analog zur kanaanäische Frau irgendwie die Außenstehenden, jedoch gerade deswegen die Dazugehörigen und Bereichernden sind. Und zum anderen identifiziert es jene anderen „Anderen“, die zwar formal dazugehören, aber in der Sache die böse Gruppe der wahren Glaubensfeinde bilden: „die "Antagonisten", die "Dämonen" der neuen Kirche sind wir, die Katholiken, die der Lehre der Apostel treu sind, die uns von unseren Vätern gelehrt wurde. Wir sind es, die gekommen sind, um zu spalten und den Dialog zwischen der Kirche und der Welt zu behindern. Wir sind Teufel, und als solche müssen wir verfolgt werden. (…) Dies ist die große Umkehrung. Die Wahrheit ist nicht mehr in der Kirche Christi, sie ist außerhalb von ihr. Sie muss nicht mehr diejenige sein, die lehrt, sondern diejenige, die sich belehren lässt. Sie ist nicht mehr diejenige, die heilt, sondern diejenige, die geheilt werden muss.“6
Es ist verständlich, dass diese Umkehrung auf viele Gläubige äußerst verstörend, ja verrückt wirkt. Gleichwohl liegt präzise hier die Pointe des großen geschichtlichen Bogens, von dem ich sprach. Das Weltalter des Ausgleichs bringt nämlich eine eigene Moral, die Moral des Ausgleichs hervor: Gut ist all das, was der Synthese, der Gleichheit und Einigung, der integrativen Geschwisterlichkeit und Förderung der Übereinstimmung, der Inklusion dient. Böse ist hingegen all das, was sowohl Zäsuren und Unterschiede formuliert als auch hervorhebt, dass es logisch unversöhnbare, nicht in eine umgreifende Einheit aufhebbare substantielle Differenzen gibt. Böse ist das „Anathema“ der vormaligen Kirche, das heute nur noch von denen reklamiert wird, die sich nach wie vor in jenem unmoralischen Zustand befinden, in dem sich Jesus nach der Lesart des Pater Spadaro SJ vor seiner Bekehrung durch die kanaanäische Frau befunden hat. Entsprechend schreibt Papst Bergoglio an den neu ernannten Präfekten des Glaubensdikasteriums: „Das Dikasterium, dem Sie vorstehen werden, hat in anderen Zeiten unmoralische Methoden angewandt. Das waren Zeiten, in denen man, anstatt theologische Erkenntnisse zu fördern, mögliche Irrtümer in der Lehre verfolgte. Was ich von Ihnen erwarte, ist sicherlich etwas ganz anderes.”7
Das bergoglianische Pontifikat betreibt – nicht zuletzt über personalpolitische Weichenstellungen - die kirchliche Verankerung der Moral des Ausgleichs mit großer Vehemenz. Insofern läßt sich kaum bestreiten, dass Bergoglio ein Stratege ist. Und wer könnte leugnen, dass dieses Projekt in der Kirche bereits gut vorangekommen ist? Wer heute noch das Assisi-Ereignis, die Amazonassynode oder das Dokument von Abu Dhabi zu kritisieren wagt, wer noch immer von konfessionsverschiedenen und nicht von konfessionsverbindenden Ehen spricht, wer überhaupt den Ökumenismus in seinen vielfältigen Erscheinungsweisen problematisiert und darauf beharrt, dass nicht „alle, alle, alle“ zum „Tisch des Herrn“ zugelassen sind, wer eine partikulare Tradition als die allein wahre behauptet, der gilt im Kontext der in der Kirche dominant gewordenen Ausgleichsethik nicht nur als Gegner mit einer anderen Position, sondern als zu eliminierender Feind, als moralisches Ungeheuer.
Nur von hierher ist die Massivität der Konflikte verstehbar, die wir heute in der Kirche erleben. In früheren Zeiten verlief die Konfliktlinie zumeist eindeutiger, sofern etwa die von der atheistischen Aufklärung geprägten Gegner des Christentums den kirchlich artikulierten Glauben als den genuin christlichen akzeptierten, von dem sie sich eben absetzten. Diese klare Gegenüberstellung ist heute zerfallen. Sie sitzt jedoch noch immer in den Köpfen der traditionalen Gläubigen. Das erzeugt viele Beurteilungsfehler des aktuellen Konfliktes. Seine Massivität besitzt der Konflikt also deswegen, weil er ein echter innerkirchlicher Religionskrieg ist. Die Gegner des traditionalen Glaubens treten nicht mehr als Ungläubige, sondern umgekehrt als die ihrem Selbstverständnis nach echten Christen auf, die die Mission zu besitzen meinen, den menschenfeindlichen „Antichristen“ wie Kardinal Burke oder Bischof Strickland entgegentreten zu müssen.
Wer bin ich, um zu urteilen?
Wie sehr das bergoglianische Pontifikat strategischer Natur ist, sieht man an der systematisch betriebenen Vernetzung der unterschiedlichen theologischen Themenfelder. Die Familiensynode mit „Amoris laetitia“, die Amazonassynode, die Synodalitätssynode, die Erklärung von Abu Dhabi, „Evangelii gaudium“, „Fratelli tutti“, „Laudato si“, „Laudate Deum“, „Fiducia supplicans“ sind keineswegs bloße Einzelereignisse, sondern aufeinander abgestimmte Momente des Programms zur umfassenden Implementierung der zentralen bergoglianischen Ideologie. Abschließend möchte ich noch auf einen Aspekt eingehen, der zur Realisierung der Universalinklusion unerlässlich ist und von Bergoglio und seiner Entourage vor allem im Kontext der Familien- und der Synodalitätssynode beständig zur Geltung gebracht wurde. Es handelt sich hier um so etwas wie die erkenntnistheoretische Grundlegung des Projekts der Universalinklusion.
Die Zerstörung der Moral beginnt mit der Depotenzierung der Reichweite der Vernunft. Je stärker die Vernunft vom An-sich-Sein der Dinge abgeschnitten wird, desto größer muß der Eigenanteil der subjektiven Setzungen bei der Konstitution der Objekt-Welt sein. In seiner Radikalform wird dieses An-sich-Sein überhaupt geleugnet und ist das, was wir „die Wirklichkeit“ nennen, nur noch ein sprachliches Phänomen, also ein Zeichensystem, dessen interpersonale Gültigkeit exklusiv von kulturellen Übereinkünften abhängig ist. Der französische Dekonstruktivismus Foucaults oder Derridas hat genau diese Position zu seiner erkenntnistheoretischen Voraussetzung. Wir dürfen, so sagt Foucault, uns nicht einbilden, dass uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet. Die Ordnung der Dinge erschaffen wir selber, unsere Welten und die Schemata ihrer Konstitution sind sogenannte Diskurse. Zwischen den epochalen Diskursen kann es keine Kontinuität geben. Das setzte ja einen objektiven Bezugsrahmen und Beurteilungsmaßstäbe voraus. So ist das, was wir Geschichte nennen, nichts anderes als eine Kategorienkonstruktion. Damit erscheinen konsequenterweise alle Wahrheitsbegriffe und Moralen als bloße kulturelle Setzungen. Sie sind Szenen einer mehr oder weniger fantasievollen Aufführung, und Kategorien wie das Naturrecht sind Erfindungen innerhalb eines solchen Drehbuches. Zwar referiert Foucault durchaus noch auf die alten Moralen. Aber er rekonstruiert sie niemals so, wie sie sich selbst verstanden, sondern interpretiert sie als Techniken einer sich selbst inszenierenden Subjektivität.
Nun wäre es übertrieben, Jorge Bergoglio einen reflektierten Dekonstruktivisten zu nennen. Dazu fehlen ihm bereits die intellektuellen Voraussetzungen. Gleichwohl bedient er sich am dekonstruktivistischen Baukasten. Und zwar geschieht das bei ihm über die von ihm und seinem Umfeld ständig bemühte Rede von der „Unterscheidung“. Diesen Topos, der aus der ignatianischen Spiritualität kommt, benutzt Franziskus, um seine Auffassungen von der wahrheits- und erkenntnistheoretischen Unmöglichkeit objektiver sittlicher Urteile wohlklingend zu formulieren. Das heißt: Die bergoglianische Unterscheidung will gerade nicht die indietristischen Unterscheidungen zur Geltung bringen, sondern verfolgt die gegenteilige Absicht, unbedingt „alle, alle, alle“ zu integrieren.
Die der bergoglianischen Rede von der Unterscheidung zugrundeliegende Idee kann man nominalistisch nennen: Wir haben keine sachadäquaten Begriffseinsichten; zwischen unserem vermeintlichen theoretischen Wissen bzw. unseren auf Allgemeinheit abzielenden Kategorien, die nach dieser Lesart als bloße Weltbewältigungsfunktionen dechiffrierbar sind, und der in unzähligen Einzelheiten auftretenden Realität klafft ein unüberbrückbarer Graben. Das heißt, dass auch in sittlichen Kontexten die individuellen Verhältnisse nicht Fälle eines Allgemeinen sind, von dem her eine zutreffende objektive Beurteilung möglich wäre. Sie bilden absolute Singularitäten, die als solche nicht mehr von einer extrinsischen Position aus normiert, sondern nur noch je von innen, mit einfühlender Abwägung der diversen Umstände zur Sprache gebracht werden können.
Moraltheoretisch führt dies zu einer situationsethischen Position, in der das Gewissen nicht einfach nur – wie es die ganze Tradition lehrt - die höchste subjektiv-moralische Instanz ist, sondern das einzelne Subjekt selbst zum Gesetzgeber und Richter in eigener Sache wird. „Wer bin ich, um zu urteilen?“, dieser berühmte Satz von Franziskus bringt präzise die nominalistische Grundhaltung zum Ausdruck, die die Seelsorge von der Lehre befreit bzw. die Lehre durch die nun allein noch mögliche Praxis der „Unterscheidung“ ersetzt. Und weil die Lehre erkenntnistheoretisch lediglich Ideale und Klugheitsratschläge formulieren kann, über deren Umsetzungsmodus nur noch das konkrete Subjekt selber zu entscheiden vermag, muß die Form des Gesetzes, in der die Lehre bislang auftrat, verschwinden. „Es gelingt uns kaum, die Wahrheit, die wir vom Herrn empfangen haben, zu verstehen. Unter größten Schwierigkeiten gelingt es uns, sie auszudrücken. Deshalb können wir (das apostolische Lehramt von Papst und Bischöfen) nicht beanspruchen, dass unsere Art, die Wahrheit zu verstehen, uns ermächtigt, eine strenge Überwachung des Lebens der anderen vorzunehmen.“8 Das „Wer bin ich?“ bezieht sich primär auf diesen erkenntnistheoretischen Hintergrund.
Die „schwache Vernunft“ läßt es demnach sogar theoretisch unmöglich erscheinen, Lebensentwürfe moralisch auszugrenzen – freilich mit einer Ausnahme. Die Indietristi mit ihrem anmaßenden Vernunftbegriff müssen ausgegrenzt werden. Sie sind nicht nur psychologische und moralische, sondern ebenso philosophische Monster, die sich der erkenntnisskeptizistischen Aufklärung verweigern. Demgegenüber lobt sich die päpstliche schwache Vernunft wegen ihrer Bescheidenheit, die ganz neue Toleranzspielräume eröffne und dazu führe, dass sich die Kirche von einer doktrinären zu einer hörenden, von einer richtend-urteilenden zu einer inklusiven und barmherzigen, von einer direktiven zu einer begleitenden und von einer proselytischen zu einer dialogischen transformiere.
Deswegen ist die von Bischof Eleganti beschriebene bergoglianische Agenda der Überwindung der priesterlichen Autorität konsequent.9 Wenn erkenntnistheoretisch lediglich individuelle Fall-zu-Fall-Entscheidungen möglich sind, kann der Beichtvater nur noch ein Begleiter auf dem Weg zu diesen situativen Einschätzungen sein. Das ist etwa vom Berliner Erzbischof Koch im Blick auf den Kommunionempfang von Nicht-Katholiken in sogenannten konfessionsverbindenden Ehen ironischerweise in Gesetzesform gegossen worden: wenn die Leute nach ihren privaten Unterscheidungen zur Überzeugung gekommen sind, die Kommunion empfangen zu dürfen, hat der ausdrücklich nur noch auf die Beratungsfunktion reduzierte Priester keine Befugnis mehr, das zu verweigern.10
Unsere Aufgabe
Wie reflektiert Jorge Bergoglio ein Stratege ist, vermag ich nicht zu beantworten. Das ist aber auch gar nicht nötig. Faktisch ist sein Pontifikat durch die sukzessive Implementierung der Agenda der Differenznivellierung und universalen Inklusion charakterisiert, die die alles beherrschende Obsession unseres Weltalters ist. Die gesamte kirchliche Queerpolitik, die für die postchristliche kirchliche Linke geradezu zum Zentrum des Projekts der neoreligiösen Sinnstiftung geworden ist, bildet einen unmittelbaren Reflex dieser Obsession. Vermutlich wird Bergoglio selber primär durch ein dumpfes, tief in ihm sitzendes Ressentiment gegen die klassische Übernatürlichkeitslehre angetrieben sein. Dieses Ressentiment hat ihn Geister rufen lassen, die eine unwiderstehliche Eigendynamik entfesseln. Sie sichern ihre Macht durch systemische Verselbstständigungen. Am massivsten wird das bergoglianische Ressentiment wohl durch den Elitarismus des Satzes hervorgetrieben worden sein: „Eng ist die Pforte und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind es, die ihn finden.“ (Mt 7,13f) Was könnte besser veranschaulichen, dass genau dieser Satz in der Inklusionstheologie überwunden werden soll, als Bergoglios Verteidigung des Judas und die Ermächtigung all der zwielichtigen tuchohaften Kreaturen? Es ist das Ressentiment, das verkündet: „Gott akzeptiert dich so, wie du bist.“
Aber die Agenda des Ressentiments geht noch weiter. Gott soll die egozentrischen Vollzüge des Menschen nicht nur akzeptieren, sondern diese Vollzüge sollen die qualifizierten Orte der Gotteserfahrung selber werden. In der kongenialen Vorwegnahme der Orgasmusmystik Kardinal Tuchos sprach bereits vor Jahrzehnten ein Spiritual in einem deutschen Priesterseminar bei seinen „geistlichen Exhortationes“ davon, die Seminaristen sollten sich „in Gott hineinmasturbieren“ und darin Gottes eigene Lust wahrnehmen. Die Seligkeit des Himmels wird in der tuchoesken Theologie der Lust im Paradigma der Masturbation interpretiert. Es ist die verächtliche Ressentimentmoral der schwachen Seelen, die sich in der modernen Kirche zum Maß aller Dinge aufgespreizt hat, jener weichlichen und triebverfallenen Kreaturen, die sich, um mit Nietzsche zu sprechen, nicht selber befehlen und sich nicht selber gehorchen können.
Die systemischen Verselbstständigungen empfinde ich als das eigentlich Beängstigende in all diesen Vorgängen. Die Macht des neuen Weltalters vermag sich auch durch Jorge Bergoglio hindurch konsequent zu realisieren. Der Philosoph Martin Heidegger entziffert diese Macht als die Macht der Technik. Damit meint Heidegger nicht die Maschinentechnik, sondern den Geist der totalisierten Machenschaft, die alle qualitativen Differenzen und Hierarchien einebnet und zu einer radikalen Massenkultur führt. Alle Dinge, sämtliche natürlichen Vorgaben und geschichtlich gewachsenen Traditionen, werden im Schmelztiegel dieser Machenschaft zu bloßen Momenten einer in sich zirkulierenden Herrschaft verflüssigt. Das Resultat ist eine vereinheitlichte Welt, in der die Dinge wie auf einer unendlichen Fläche jeden Abstand, damit auch jeden Bezug und jede Bedeutung verlieren. „Etwas rast um den Erdball“, sagt Heidegger, und meint damit die Macht der Machenschaft. Es ist kaum übersehbar, dass der Geist dieser Machenschaft der Geist des neuen Weltalter ist, von dem Scheler handelt, und dass er auch die katholische Kirche voll erfasst hat.
Christen identifizieren die von Heidegger beschriebene Macht der Machenschaft mit einem bestimmten Namen. Diese Macht hat das Netz ihrer alles vereinheitlichenden Ideologie deshalb um den gesamten Globus geworfen, weil sie – mit eindrucksvollen moralischen und spirituellen Rhetoriken - eine bestimmte Partikularität unkenntlich machen will. Diese Partikularität ist der Christus, der in seiner Absolutsetzung für alle Egalisierungs- und Inklusionsbemühungen der ärgerlichste Störfaktor ist. Die Erinnerung an ihn soll aus dem Weltgedächtnis gelöscht werden. Die Kirche ist dieser Macht schon seit geraumer Zeit sehr behilflich, weil sie gegen den Christus den alles umarmenden Jesus der Zärtlichkeit in Stellung bringt, Assisi-Treffen, Amazonssynoden und Abu-Dhabi-Dokumente organisiert und den Weltfrieden, die natürliche Geschwisterlichkeit aller, den Dienst am politischen Gemeinwohl sowie die neumythologische Sorge um „Mutter Erde“ zu den entscheidenden Anliegen des Christentums erklärt. Es läuft im Moment sehr gut für diese Macht.
Ich denke, wir müssen darauf achten, in all unseren Analytiken präzise diesen Grundvorgang nicht zu übersehen. Sämtliche Gräßlichkeiten der gesamtkulturellen und theologischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte bis hinein in die Verwässerung der Religionsunterschiede und der atemberaubenden liturgischen Verfallserscheinungen sind nur Momente am umfassenden Programm der Christusvergessenheit. In einem Ihrer Aufsätze stellen Sie, verehrter Wanderer, angesichts des kirchlichen Glaubensabfalls die fast verzweifelte Frage, „was sollen wir tun?“ Politisch können wir sehr wenig tun. Wir können aber in einem gemeinsamen Kampf mit den uns zur Verfügung stehenden geistigen Waffen dem diabolischen Projekt, das Antlitz Christi auszulöschen, entgegentreten. In pathetisch kompetenteren Zeiten hätte man gesagt: Er ruft uns in die Schlacht.
Ihr Vigilius
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Henri Kardinal de Lubac, Zwanzig Jahre danach. Ein Gespräch über Buchstabe und Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils, München 1985
Martin Heidegger, die onto-theologische Verfassung der Metaphysik, in Identität und Differenz, GA Bd. 11, Frankfurt am Main 2006, 77
Max Scheler, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: Gesammelte Werke, Bd. IX, Bern 1976, 145-170
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https://katholisches.info/2023/07/06/einer-der-beunruhigendsten-akte-des-pontifikats-von-papst-franziskus/
Papst Franziskus, Gaudete et exsultate, Nr. 43
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