„Man hat nur spät den Mut zu dem, was man eigentlich weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit kurzem eingestanden: die Energie, die Nonchalance, mit der ich als Nihilist vorwärts ging, täuschte mich über diese Grundtatsache. Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es unmöglich, dass »die Ziellosigkeit an sich« unser Glaubensgrundsatz ist.“
Diese Sätze stammen von Friedrich Nietzsche, der in seinem sechsundfünfzigsten Lebensjahre starb. Matthias Sellmann, Leiter des an der Ruhr-Universität Bochum ansässigen „Zentrums für angewandte Pastoralforschung“, hat sein sechsundfünfzigstes Lebensjahr bereits deutlich überschritten. Als Nietzsche seine oben zitierte Einsicht formulierte, war Nietzsche etwa vierzig Jahre alt. Und er nennt sie eine „spät“ eingestandene.
Sellmanns Bild der Dinge
Matthias Sellmann ist also Pastoralforscher, und zwar einer, der seine Forschung „anwenden“ will. Wozu er sie anwenden will, erläutert er in einem Interview mit dem Onlineportal „katholisch.de“ der Deutschen Bischofskonferenz. Unmittelbarer Ausgangspunkt des Interviews ist eine Studie, die Sellmanns Institut im Auftrag dieser Konferenz durchgeführt hat.1 Gegenstand der Studie ist das Selbstverständnis der jüngeren Priester in Deutschland, die innerhalb des letzten Jahrzehnts geweiht wurden. Das kirchliche Establishment hält die Ergebnisse dieser Studie, so läßt es sich den einschlägigen Kommentaren entnehmen, für „besorgniserregend“, „sehr besorgniserregend“, „mehr als bedenklich“ und auch für „sehr problematisch“. Denn Sellmanns Studie „Wer wird Priester?“ befundet, dass die jüngeren Priester „in der Mehrzahl mit den Settings und Werten der modernen Gesellschaft fremdeln“ und damit auch „den Synodalen Weg nicht mitmachen“.
Für die Kommentatoren ist es unzweideutig, dass die befragten Priester mit ihrer Haltung „klerikales Monadentum“ betreiben und die „Zeitgenossenschaft“ verweigern. Soziologisch sei das, so Sellmann, aber nicht verwunderlich, denn die bedenkliche Priesterschar stamme weitgehend aus jenen spießigen Sozialmilieus, die im gesamtgesellschaftlichen Trend gerade „austrocknen“ würden. Das begründe die mangelnde Aufgeklärtheit, auch was den Synodalen Weg betrifft. Dementsprechend weiß einer der Besorgten, der sogar zum „Journalist des Jahres“2 gekürt wurde, noch hinzuzufügen, dass die priesterlich geschmähten Bemühungen des Synodalen Weges doch gerade ein „Ausdruck der Sorge um die Amtsträger“ seien.3 Ja, wie kann man nur so blind sein und nicht erkennen, wie priesterfreundlich etwa der auf dem Synodalen Weg eingebrachte und von fast der Hälfte der Delegierten begrüßte Antrag war, zu prüfen, ob es überhaupt noch Priester in der Kirche brauche? Wenn etwas klar ist, dann doch, dass die Sache der Priester bei Irme Stetter-Karp, Claudia Lücking-Michel und Julia Knop gut aufgehoben ist.
Aber zurück zu Pastoralforscher Sellmann. Viel interessanter als das ohnehin erwartbare Studienresultat sind seine anlässlichen Einschätzungen auf katholisch.de. Denn Sellmann bekennt sich „klar zum Synodalen Weg“ und räumt freimütig ein, dass er die von ihm verantwortete Studie im Horizont „seiner Theologie“ interpretiere: „Ich habe ein bestimmtes Kirchen-, ein bestimmtes Priester- und ein bestimmtes Gesellschaftsbild.“ Dieses bestimmte Bild der Dinge besitzt nun selber in überreichem Maße jene den Priestern von Sellmann abverlangte „volle Zeitgenossenschaft“, dass es uns einen perfekten Einblick in den Mechanismus des Geistes unserer Zeit vermittelt, der mit dem heute in der Kirche weitflächig herrschenden Bewußtsein rückstandslos identisch geworden ist.
Herr Sellmann ist ein großer Freund unserer Gesellschaft. Darin kommt er mit dem Synodalen Weg und dessen Präsidenten, Bischof Georg Bätzing, überein. Denn Bischof Bätzing ist wie die Parteigänger des Synodalen Weges ein Philanthrop reinsten Wassers und bekennt sich vorbehaltlos zur diversen, postkolonialistischen und inklusivistischen Gesellschaft. Deswegen hält Bischof Bätzing mit seinem Amtsbruder Reinhard Marx und den Synodalen sensiblen Abstand von der anti-divers verstehbaren Rede vom „christlichen Abendland“. Das deutschen Grundgesetz gilt Bätzing jedoch, und da dürfte er auch Herrn Sellmann aus dem Herzen sprechen, nach dem Abschied vom christlichen Abendland und in Zeiten der Totalverflüssigung der Glaubenslehre als „zeitlos und unverrückbar“. Wie wir in der Corona-Zeit gesehen haben, ist der Grundgesetzfreund Bätzing für die im Grundgesetz verankerten unverrückbaren Grundrechte ja auch unverrückbar eingetreten.
Ebenso wie sein Auftraggeber Bätzing ist nun auch Sellmann ein sogar so großer Freund dieser unserer vielfältigen Gesellschaft, dass er im Blick auf das „zukunftsfähige Zusammenleben aller“ nicht nur konstatiert, unsere Gesellschaft habe „eine Kirche verdient, die Avantgarde sein will – zusammen mit den anderen gemeinwohlorientierten Kräften“, sondern diese Aufgabe zu nichts geringerem als dem articulus stantis et cadentis ecclesiae erklärt. „Für wen sollte die Kirche primär da sein?“ fragt Sellmann. Etwa „für die Hauptamtlichen? Nein. Also dann für die Gemeinde, die Gläubigen? Auch nein.“ Vielmehr sollten nach Matthias Sellmann „Christinnen und Christen“ gemeinsam da sein „für das Quartier, die Stadt, die Region: die Gesellschaft“. Es geht im ekklesialen Kern also darum, „nützlich für eine gemeinwohlförderliche Gesellschaft“ zu sein.
Zur Realisierung dieser Nützlichkeit muß die Kirche nach Auffassung Sellmanns zunächst begreifen, dass die Gesellschaft „Gott und die Lebensqualität von Religion bisher nicht kennenlernen konnte“. Da sie es nach Sellmann bisher nicht konnte, kann die Unkenntnis niemals, nicht einmal anteilig, in der Verantwortlichkeit der Gesellschaft selber liegen. Also liegt es allein an der Kirche. Und zwar deswegen, weil es der Kirche bislang primär um die Gläubigen gegangen ist. Deswegen sind unsere Gemeinden ja blühende geistliche Landschaften. Tatsächlich ist nach Sellmanns Auffassung die Kirche in Deutschland „geistlich reich“, welche Einschätzung den Auftraggeber der Studie gewiß erfreuen wird. Für ihren unermüdlichen geistlichen Einsatz sind die deutschen Bischöfe auch weltberühmt. Aber die Kirche wäre geistlich natürlich noch sehr viel reicher, wenn sie mit der richtigen Theologie, also mit der sellmannschen Theologie, endlich realisierte, wozu sie in Wahrheit da ist. Doch genau zur Beförderung dieser Wende ist das Sellmann-Institut ja eines für angewandte Pastoralforschung. Sellmann will was erreichen.
Grundlegend will Sellmann dafür werben, dass die Kirche „das Kompetenzprofil von Seelsorge“ der Gesellschaft „als kulturelle Ressource für freies, selbstbestimmtes, kreatives und gemeinwohlorientiertes Leben anbietet“. Und dieses Kompetenzprofil ist nach Sellmann sehr eindrucksvoll: „Das sind Leute, die wissen und können sehr viel über mentale Gesundheit; über gewaltfreie Konfliktmediation; über aktivierende Gruppenprozesse; über innovative Organisationskultur; über kulturellen Dialog; über inspirierendes story-telling; über community organizing; über förderliche Rituale; über globalen Solidaritätsaufbau, und vieles mehr.“ „Wer solche Kompetenzen hat“, so Sellmann, „ist gesellschaftlich eigentlich überaus nützlich und attraktiv“. Eigentlich. Denn „noch sind wir in der Kirche nicht so weit, unsere Berufe konsequent von diesen Bedarfen her neu zu entwickeln“. Zu diesen Berufen zählt nach Sellmann nicht zuletzt der „Priesterberuf“. Deswegen darf dieser Beruf nicht „musealisiert“ werden. „Ich möchte“, bekennt Sellmann, „ihn gern hineindefinieren wollen in das, was heute konkret an Seelsorge gebraucht wird“. Und was das ist, hat Sellmann ja lichtvoll erläutert.
Nun gibt es aber die von der Studie beschriebenen klerikalen Widerstände gegen dieses Projekt des Hineindefinierenwollens. Die überwältigende Mehrheit der befragten Priester ist nämlich der Ansicht, eine echte Reform der Kirche könne nur durch eine stärkere Konzentration auf die Liturgie und die katholische Lehre erreicht werden. Zudem vertreten die meisten dieser Priester in den Fragen des Zugangs zum Priesteramt, des Zölibates und der Beteiligung von Laien an der Kirchenleitung die traditionelle kirchliche Position. In ihrem Priesterverständnis betonen die Befragten stark die sakrale Dimension ihres Amtes und wollen weder Agenten des sozialkulturellen Mainstreams noch Manager von riesigen Pfarreiorganisationen, sondern primär sakramentale Heilsmittler, also Pastoren im eigentlichen Wortsinne sein. Im eigentlichen Wortsinn heißt: sie wollen im Sinne des Johannesevangeliums „Hirten“ sein.
Das ist allerdings gar nicht im Sinne Sellmanns, der das fragliche Metaphernfeld für „überholt“ und „für die professionelle Beschreibung des Priesterberufs auch unattraktiv“ findet. Der Priester, der in das „bestimmte Kirchen- und Priesterbild“ Herrn Sellmanns passt und primär „Quartierverantwortung“ und die „Bündelung lokaler Gemeinwohlinteressen“ übernimmt, findet sich in der Studie nicht abgebildet. „Daher“, so Sellmann, „kommt meine Besorgnis“. Und hier kündigt sich die zweite Dimension des anwendungsorientierten Charakters der Sellmannschen Pastoralforschung an: Es muß vor dem Hintergrund des Studienergebnisses zu einem „energischen Umsteuern in der Berufungspastoral“ kommen.
Was das heißt, dürfte einigermaßen klar sein: Entweder werden die Bewerber für das Priesteramt, die aus den austrocknenden Spießermilieus kommen, überhaupt nicht mehr zu Priestern geweiht und deswegen mittels identifizierender Voruntersuchungen schon gar nicht ins Seminar aufgenommen oder jedenfalls zeitig entfernt, oder der Ausbildungsprozess entwickelt neue, effizientere Verfahren der „formatio“, die nur Böswillige mit so etwas wie Gehirnwäsche und Anpassungszwang in Verbindung bringen können. Das „Institut für angewandte Pastoralforschung“ wird sich gewiß bereit erklären, seine einschlägigen Expertisen den Diözesen zur Verfügung zu stellen und energisch daran mitzuwirken, das Entstehen „klerikalen Monadentums“ künftighin zu verhindern. Wenn die Umsteuerung energisch genug nach den Grundsätzen des Sellmannschen Bildes der Dinge verlaufen würde, könnte das Ergebnis einer Folgestudie in zehn Jahren sicher weit weniger besorgniserregend ausfallen.
Sellmanns Illusionen
Sellmanns Position lebt von unausgewiesenen Voraussetzungen, zu denen die für Sellmanns Argumentation sogar zentral bedeutsame Präsupposition zählt, dass die heutige Gesellschaft am „Kompetenzprofil von Seelsorge“ überhaupt Interesse zeigen und das einschlägige Angebot „attraktiv“ finden würde. An dieser These kann man jedoch Zweifel haben. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin in den von Sellmann beschworenen kirchenfernen Milieus durchaus unterwegs. Mit völlig ungläubigen Freunden aus der Universität habe ich über die Sellmannschen Vorstellungen gesprochen, und ich kann berichten, dass man sich zugleich höchstlich vergnügte und besorgt fragte, ob mit der Urteilskraft des Herrn Sellmann etwas nicht stimme. Zum einen scheint Sellmanns Einschätzung der Niveauhöhe des faktischen „Kompetenzprofils von Seelsorge“ an erheblichem Realitätsmangel zu leiden. Tatsächlich gibt es kaum eine der von ihm genannten gemeinwohlnützlichen „Kompetenzen von Seelsorge“, die nicht auf wirklich professioneller Kompetenzebene – von Psychotherapeuten bis zu langjährig ausgebildeten Managern, Mediatoren und Sozialarbeitern - abrufbar wäre. Der einzige Vorteil, mit dem das kirchliche Angebot konkurrenzlos punkten könnte, bestünde darin, dass es kostengünstig ist.
Zum anderen, und dieser Punkt ist weit erheblicher, verkennt Sellmann, dass es in weiten Teilen der säkularisierten Gesellschaft keinerlei Bedürfnis mehr nach kirchlicher „Zeitgenossenschaft“ auch nur irgend eines Zuschnitts gibt. In welcher Welt mag Matthias Sellmann leben, so fragen sich die, die angeblich „Gott und die Lebensqualität von Religion noch nicht kennenlernen konnten“, wenn er nicht nur die radikalen Säkularisierungsprozesse der westlichen Gesellschaften, zunehmend sogar der US-amerikanischen, als Prozesse progressiver Ablehnung jedweder kirchlichen Assoziation nicht thematisiert, sondern auch die zunehmende Gegnerschaft des sich im Westen mächtig ausbreitenden radikalisierten Islam als Horizont heutiger kirchlicher Existenz in der Welt völlig ausblendet? Meine erwähnten Gesprächspartner wünschen der Sellmannschen Gemeindereferentin jedenfalls gutes Gelingen bei dem Projekt, mit dem Kompetenzprofil des inspirierenden story-telling und des Wissens um aktivierende Gruppenprozesse nicht nur im Fitness-Studio oder in bäuerlichen Betrieben, sondern auch in muslimisch dominierten Quartieren einer unserer Großstädte aufzutauchen, um hier eben diese ihre Kompetenz „als kulturelle Ressource für freies, selbstbestimmtes, kreatives und gemeinwohlorientiertes Leben“ anzubieten.
Angesichts der tatsächlichen sozialen und kulturellen Lage der westlichen Gesellschaften muten Sellmanns Einlassungen wie ein grotesker Romantizismus an. Sie gehören zu jenen kindischen Naivitäten, die nur gedeihen können in relativ abgeschotteten Sozialmilieus, die tendentiell blind geworden sind für das, was in anderen, mitunter quantitativ erheblich größeren sozialen Zusammenhängen passiert. In unserem Fall handelt es sich um jenes gut abgezirkelte, akademisch geprägte Sozialmilieu, das in der universitären Theologie und im kirchlichen Establishment majoritär gleichermaßen links-liberalistisch tickt und die hohe Kunstfertigkeit entwickelt hat, die eigenen Illusionen für weltabbildend zu halten, weil die anderen Bewohner der eigenen Insel sie ja permanent bestätigen. Betrachtet man die Formulierungen Sellmanns näher und fragt sich, was das denn tatsächlich bedeuten könnte, wird man schnell feststellen, dass es sich vor allem um abstrakte Phrasen handelt, mit denen uns das ideologische story-telling der liberalen deutschen Theologie seit Jahrzehnten bis zum Überdruss bombardiert. Das ist beim Synodalen Weg, der bei niemandem außer den staatlich bezahlten Bischöfen, verbeamteten Theologen sowie den Funktionärskatholiken und dem fanatisierten BdkJ Interesse findet, geradezu mit Händen zu greifen. Es ist doch nachgerade lachhaft zu meinen, wenn der Synodale Weg seine Ideen ungehindert in der Kirche umgesetzt haben würde, könnte das irgend jemanden, der nicht ohnehin schon zu diesem marginalen Milieu gehört, hinter dem Ofen hervorlocken und „die Lebensqualität von Religion“ entdecken lassen.
Die Wahrheit ist, dass die von Sellmann kritisierte kirchliche Selbstbezüglichkeit gerade für die Sellmannsche Position selber gilt: man entwirft nach den eigenen Vorlieben eine Kirche für jene, die diese Vorlieben auch besitzen. Allerdings befürchte ich, dass Sellmann sein story-telling bereits so lange und unwidersprochen betrieben hat, dass er sein eigener Glaubensjünger geworden ist. Vielleicht wird er selber aber noch erleben müssen, dass das von ihm geforderte „energische Umsteuern in der Berufungspastoral“ lediglich dazu führen wird, dass die Sellmanns in der Sellmann-Kirche ungestört unter sich sein können - für eine relativ kurze Weile, denn das kirchliche Sellmann-Milieu, das in seiner Selbstfixierung die ultimative Zuspitzung des Spießertums ist, wird innerhalb der nächsten Jahrzehnte „austrocknen“. Übrig bleiben wird ein sklerotisiertes Gebilde wie der heutige Anglikanismus.
Der sich selbst aufhebende Funktionalismus
Für die soeben formulierte Prognose gibt es nicht nur eine soziologische, sondern auch eine korrelierende philosophisch-theologische Plausibilität. Sellmann begreift in seinem „bestimmten Kirchenbild“ das Sein der Kirche streng funktional. Die Kirche ist dazu da, nützlich zu sein. Diese Formulierung kann man durchaus akzeptieren. Allerdings sind zum richtigen Verständnis dieses Satzes Vorüberlegungen und Einordnungen notwendig.
Zwecke gibt es nur dann, wenn es Endzwecke gibt. Endzwecke sind dadurch definiert, dass sie selber keine Funktion mehr an der Erreichung von etwas anderem sind. Endzwecke sind also Selbstzwecke, und sie bestimmen die ihnen untergeordneten Partikularzwecke, die erfüllt sein müssen, damit irgendwann der Endzweck erreicht werden kann. Gäbe es keine Endzwecke, gäbe es nur zwecklose Vorkommnisse, eine ziellose Reihe von sinnlosen Faktizitäten. Ich will diese philosophische Analytik der Natur von Zwecken jetzt gar nicht weitertreiben, sondern sogleich ins theologische Feld wechseln, um den Nihilismus der Sellmannschen Position zu beschreiben.
Nach Sellmann ist die Kirche in ihrem Wesen ein Mittel, das der Erreichung jenes Zweckes dient, den Sellmann als das „zukunftsfähige Zusammenleben aller“ definiert. Dieser Zweck ist nach Sellmann für die Kirche also deren Endzweck. Deswegen ist Sellmanns Forderung konsequent, dass die Kirche dort, wo sie diese Idee ihrer selbst noch nicht adäquat realisiert, an der entsprechenden Gestaltung ihres Mittel-Charakters arbeiten müsse. Darum muß es die von Sellmann intendierte Nachrüstung bei den untergeordneten Zweckreihen geben. Vor allem muß die Auswahl des Personals und die konkrete Ausbildung der Priester und anderer Mitarbeiter des kirchlichen Betriebes effizienter auf die Erreichung des Zweckes der Substantiierung des einschlägigen Mittel-seins der Kirche ausgerichtet sein, das dem eigentlichen Zweck der Förderung des gesellschaftlichen Allgemeinwohls dient.
Die zentrale theologische Frage, die von Sellmann aber nicht diskutiert wird, redlicherweise jedoch primär diskutiert gehört, lautet, ob das gesellschaftliche Allgemeinwohl für die Perspektive der Religion, in Sonderheit der christlichen Religion, überhaupt ein solcher sie radikal bestimmender Endzweck sein kann. Der bloße Umstand, dass diese Auffassung diejenige des Herrn Sellmann und seiner Freunde vom Synodalen Weg ist, stellt ja noch keinen Ausweis ihrer Validität dar. Zu erörtern ist also die Frage, ob die christliche Religion von sich selbst her möglicherweise Zwecke besitzt, deren Erreichen sie in der Tat dienen soll, die aber nicht mit den Zwecksetzungen der säkularen Gesellschaft identisch sind, woraus im Übrigen nicht zwingend folgen würde, dass solche genuin eigenen Zwecksetzungen dem „zukunftsfähigen Zusammenleben aller“ zuwiderlaufen. Diese Frage ist sachlich engstens verbunden mit den Fragen, worin die von Sellmann bemühte „Lebensqualität von Religion“ in Wahrheit besteht und welche Dienstangebote der Kirche von Menschen tatsächlich als so „attraktiv“ betrachtet werden, dass sie sie für unersetzbar halten. Die letztgenannte Frage impliziert nichts geringeres als die Frage nach der Natur des Menschen und zugleich der Zukunftsfähigkeit der Kirche.
Pastoralforscher Sellmann spricht ja nicht darüber, wie sich Krankenkassen zum „zukunftsfähigen Zusammenleben aller“ verhalten, sondern er handelt von der Bestimmung der Religion, womit in diesem Fall die katholische Kirche gemeint ist. Was unterscheidet die Kirche von einer Krankenkasse? Es muß einen Unterschied geben, sonst würde die Bezeichnung „Kirche“ ihre begriffliche Abgrenzbarkeit verlieren und nichtssagend werden. Die Kirche ist genau deswegen keine Krankenkasse, sondern eine religiöse Institution, weil sie von Gott handelt, und zwar vom Verhältnis von Gott und Mensch. Als christliche Religion ist sie offensichtlich auch dadurch definiert, dass sie sich bei ihrer Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch auf Jesus Christus bezieht. Also lautet die entscheidende Frage, wie die genannten Termini je für sich und in ihrem wechselseitigen Verhältnis bestimmt werden.
Tatsächlich findet sich bei Sellmann dazu ein Hinweis. Sellmann spricht nämlich von der Aufgabe der Kirche, „Gott zu zeigen“. Und zwar soll sie „Gott zeigen“ als „konkrete Ressource für ein zukunftsfähiges Zusammenleben aller“. Das heißt: Die ekklesiologische Endzwecklehre wird von Sellmann in der eigentlich theologischen Rede nicht verlassen, sondern umgekehrt wird die Rede von Gott dieser Endzwecklehre eingegliedert. Das also ist der Sellmannsche Gott: eine Funktion am Funktionieren der menschlichen Gesellschaften. Für den spezifischen Begriff der Kirche bedeutet das, dass die Kirche im Unterschied zu den Ressourcen einer Krankenkasse für das soziale Funktionieren Gott als „kulturelle Ressource“ einspeist. Mit den Krankenkassen gemeinsam hat sie allerdings den auch sie definierenden Auftrag, sich selber als ein Mittel zu eben diesem Zweck des zukunftsfähigen Zusammenlebens aller zu begreifen. Theologie und Soziologie sind identisch geworden.
Das hat jedoch zur notwendigen Konsequenz, dass die Gottesrede prinzipiell ersetzbar geworden ist. Etwas funktional zu bestimmen, heißt ja, es als etwas zu bestimmen, für das es grundsätzlich auch Äquivalente geben könnte. Und genau das ist gegenwärtig der Fall: Säkulare Gesellschaften referieren zur Absicherung ihrer Zukunftsfähigkeit gerade nicht mehr auf die Theologie, sondern auf andere Größen; sie haben Gott also funktional ersetzt. Eine der Gründe für diese Ersetzung war im Übrigen, dass die Gottesrede sich für eben den Zusammenhalt der Gesellschaft als dysfunktional erwiesen hatte. Nun würde Sellmann sagen, dass sich die christliche Religion von diesem sozial dysfunktionalen Gott verabschiedet habe oder sich verabschieden müsse, um zu erreichen, dass Gott eine kulturelle Ressource für den sozialen Zusammenhang sei. Aber hier dreht sich die Sache im Kreis. Denn wozu soll man diese kulturelle Ressource bemühen, wenn es auch ohne sie geht und Gott aufgrund seiner funktionalen Seinsbestimmung gar keine Selbstansprüche mehr erhebt oder spezifische Leistungen jenseits einer Funktion für das Funktionieren der Gesellschaft erbringt, die ihn begrifflich und praktisch unersetzbar machen?
Die Frage ist also, was die Unersetzbarkeit Gottes und damit auch der Kirche begründen könnte. Darauf kann es nur eine Antwort geben: Gott muß als absoluter Selbstzweck und gerade in seiner Selbstzwecklichkeit als der Endzweck des menschlichen Lebens verstanden werden. Damit ist der eigentümliche, aber alles entscheidende Sachverhalt formuliert, dass nur dann, wenn das Gottsein Gottes nicht funktional bestimmt wird, Gott für den Menschen prinzipiell unersetzbar ist und als der Nichtfunktionalisierbare zugleich die bedeutendste aller Funktionen besitzt. In der frommen Sprache des heiligen Ignatius von Loyola, der hier nur die Aussagen des Katechismus wiederholt, klingt das so: „Der Mensch ist geschaffen dazu hin, Gott Unseren Herrn zu loben, Ihn zu verehren und Ihm zu dienen, und so seine Seele zu retten.“ Dieser Satz transportiert den absolut zentralen theologischen Gedanken: Gottes Sein ist um seiner selbst willen da, und Gottes grundlegende Tätigkeit besteht darin, sich selbst als das Sein, das er ist, zu feiern. Gott verherrlicht sich selbst. Und das ist deswegen kein Widerspruch zu seiner echten Liebe zu uns, weil er sich ja als die Liebe verherrlicht, die er ist, und aufgrund der er für uns in den Tod geht. In Gott fallen Selbstbezüglichkeit und Selbstlosigkeit vollkommen ineins. Und weil Gott Gott ist, kann des Menschen höchste Tätigkeit allein darin bestehen, die Gottheit Gottes und deren Selbstliebe zu lieben, also Gott um Gottes selber willen zu lieben und alles „zur größeren Ehre Gottes“ zu tun. Und eben darin besteht die Rettung und das höchste Glück des Menschen. Es ist die Erfüllung seines Wesens. In der Tat braucht der Mensch Gott. Aber er braucht ihn gerade als den, der selber nicht mehr durch das menschliche Gebrauchtwerden definiert ist.
Wer Gott als „kulturelle Ressource“ bestimmt, hat von Anfang an verloren. Jede funktionalistische, mithin anthropozentrische Theologie krankt ansatzbedingt daran, dass sie ihren Gegenstand und damit auch sich selber zum Verschwinden bringt. Ironischerweise erweist sich die funktionalistische Theologie, unter anderem die des Matthias Sellmann, unter funktionalen Rücksichten gerade als dysfunktional. Demgegenüber muß eine Kirche, die sich als sie selber zur Geltung bringen will, darauf insistieren, die Mission zu besitzen, den Menschen zur zweckfreien Anbetung Gottes zu bekehren. Würden alle Menschen durch die Mission der Kirche ihre eigene Natur entdecken, die dadurch definiert ist, auf Gottes Verherrlichung als ihren Endzweck hingeordnet zu sein, würde sich, dafür möchte ich eine Garantie abgeben, das „zukunftsfähige Zusammenleben aller“ schon einstellen, und zwar würde es sich von allein einstellen.
Es würde sich überhaupt nur auf diesem Wege einstellen. Ob dieses Zusammenleben dann allerdings jenen inhaltlichen Zuschnitt hätte, der Matthias Sellmann und den Synodalen des Synodalen Weges gefallen würde, ist eine andere Frage. Gleichwohl wäre es sogar das allein „zukunftsfähige Zusammenleben aller“. Bedeutsam ist an dieser Stelle jedoch vor allem die Erkenntnis, dass sich gerade dann, wenn das zukunftsfähige Zusammenleben selber das zentrale theologische Prinzip geworden ist, dem Gott als Ressource zu dienen hat, das gewünschte Resultat niemals ergeben wird. Die ontologischen Verhältnisse müssen korrekt bestimmt werden. Deswegen sind Menschen, wenn sie sich religiös ansprechen lassen, auch nur an jener Gottesrede interessiert, die Gott als den zeigt, der Gott an sich selbst in Wahrheit ist. Der Mensch möchte der selbstzwecklichen Gottheit dienen, und wenn ihm dieser Gott nicht gezeigt wird, sucht der Mensch sich andere, unbekömmliche Götter, denen er opfern kann. Die scheinbar menschenfreundlichen Götter des Synodalen Weges sind solche unbekömmlichen Götter, vor denen die katholische Theologie die Menschen warnen sollte.
Was mag das wahre Motiv sein, aus dem die „bestimmte Theologie“ Sellmanns Gott zum Verschwinden bringt und sich damit selber und die Kirche in eine soziologische Funktion hinein aufhebt? Warum postuliert Sellmann das „zukunftsfähige Zusammenleben aller“ als den eigentlichen Zweck der Religion? Warum gleicht sich Sellmann dem funktionalistischen Paradigma völlig an, das zum Leitparadigma der neuzeitlichen Zivilisation überhaupt geworden ist? Warum zieht Sellmann gegen die zu Felde, die – wie die inkriminierten Priester - genau die umgekehrte, also die nicht in das funktionalistische Denken konvertierbare theozentrische Ontologie zur Geltung bringen?
Ich vermute, dass es sich hier so verhält wie bei Nietzsche. Der göttliche Gott ist als Endzweck des menschlichen Daseins schon längst gestorben, der Glaube an ihn ist lange tot. Er ist ersetzt worden durch den Menschen, durch das „zukunftsfähige Zusammenleben aller“, und dass die Rede von Gott nur noch um dieses neuen immanentistischen Endzweckes willen bemüht wird, indiziert unfehlbar den Nihilismus. Aber der Nihilismus ist nach Nietzsche deswegen „der unheimlichste aller Gäste“, weil er von hinterwärts angeschlichen kommt und sich hervorragend zu verschleiern versteht, und zwar gerade durch das energische Engagement für den Gottesersatz. Die Kunde vom toten Gott muß noch längst nicht, so belehrt uns Nietzsches „toller Mensch“, zu den Ohren derer vorgedrungen sein, die nicht mehr an Gott glauben.
Man kann sich lange etwas vormachen. Die Größe Nietzsche besteht aber darin, sich irgendwann nichts mehr vorgemacht zu haben und ehrlich geworden zu sein. Allerdings sei ihm dies erst zu einem späten Zeitpunkt gelungen, bekennt Nietzsche. Aber da war Nietzsche doch zwanzig Jahre jünger als Sellmann heute ist.
Dieser Artikel erschien auch auf katholisches.info.
https://katholisch.de/artikel/53368-sellmann-zu-studie-den-priesterberuf-nicht-musealisieren
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